"Ich vermisse euch, meine Liebsten"

Nasrin Sotoudeh‘s Briefe an ihre Kinder aus dem Gefängnis

Die herzzerreißenden Briefe der iranischen Anwältin und Frauenrechtlerin Nasrin Sotoudeh aus dem Gefängnis enthüllen das Trauma, das Familien zugefügt wurde und immer noch wird.


Nasrin Sotoudeh (rechts im Bild) mit ihren Kindern Mehraveh und Nima

 

Die Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh gehört weltweit zu den bekanntesten iranischen Menschenrechtsverteidigern. Die Behörden der Islamischen Republik verhafteten sie am 13. Juni 2018 ohne Vorwarnung. In ihrer Abwesenheit, ohne ihr Wissen und ohne Möglichkeit zur Verteidigung ist sie zunächst zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. In einem erneuten Prozess verhängten die Richter eine Haftstrafe von 33 Jahren und 148 Peitschenhieben für Anklagepunkte rund um Nasrin Sotoudehs Einsatz gegen den Kopftuchzwang. Dabei machte die Justiz Gebrauch von Gesetzen, die die Vergabe von mehr als dem eigentlichen Höchststrafmaß erlauben.

Nasrin Sotoudeh ist Mutter von zwei Kindern und in unter die Willkür eines menschenverachtenden und machtbesessenen Regimes im Iran geraten ist. Sie hat für ihren Kampf gegen die Ungerechtigkeit und für die Freiheit einen hohen Preis gezahlt, nämlich ihre Inhaftierung und damit auch die Trennung von ihrer Familie. Zweimal wurde sie deswegen verurteilt und ins Gefängnis geworfen: einmal 2010 und wiederum im Jahr 2018. Beide Male wurde Nasrin von ihren geliebten Kindern gerissen – und ihre Kinder von einer mutigen und liebevollen Mutter.

Brief an ihren Sohn –März 2011

Mein liebster Nima,

Einen Brief an dich zu schreiben, ist so sehr schwierig. Wie kann ich Dir sagen, wo ich bin, wenn Du so unschuldig und zu jung bist, um die wahre Bedeutung von Wörtern wie Gefängnis, Verhaftung, Verurteilung, Gerichtsverfahren und Ungerechtigkeit zu verstehen?

Letzte Woche fragtest Du mich: "Mama, kommst du heute mit uns nach Hause?" Und ich war gezwungen, den Sicherheitsbeamten gegenüber deutlich zu antworten: "Meine Arbeit wird eine Weile dauern, damit ich später nach Hause komme." Dann nicktest Du, als wolltest Du sagen, dass Du es verstehst, nahmest meine Hand und küsstest sie süß und kindlich mit Deinen kleinen Lippen.

Wie erkläre ich Dir, dass es nicht an mir liegt, nach Hause zu kommen, dass ich nicht frei bin, zu dir zurückzukehren bei dem Gedanken, dass du Deinem Vater ans Herz gelegt hast, mich zu bitten, meine Arbeit zu beenden, damit ich nach Hause zurückkehren kann? Wie erkläre ich Dir, dass keine „Arbeit“ mich jemals so weit von Dir entfernt halten könnte?

Mein lieber Nima, in den letzten sechs Monaten habe ich zweimal unkontrolliert geweint. Das erste Mal war es, als mein Vater starb und ich an seiner Beerdigung teilnahm. Das zweite Mal war der Tag, an dem du mich gebeten hast, nach Hause zu kommen, und ich konnte nicht mit dir nach Hause kommen.

Mein liebster Nima, in Sorgerechtsfällen haben die Gerichte wiederholt entschieden, dass ein dreijähriges Kind in Bezug auf das Besuchsrecht nicht 24 Stunden hintereinander bei seinem Vater bleiben darf. Dies liegt daran, dass die Gerichte der Ansicht sind, dass kleine Kinder nicht für 24 Stunden von ihren Müttern entfernt sein sollten und dass eine solche Trennung zu psychischen Schäden bei einem Kind führen würde.

Dieselbe Justiz ignoriert jedoch die Rechte eines dreijährigen Kindes unter dem Vorwand, dass seine Mutter "gegen die nationale Sicherheit" des Landes vorgehen will.

Es versteht sich von selbst, dass ich in keiner Weise versucht habe, „gegen die nationale Sicherheit vorzugehen“ und dass mein einziges Ziel als Anwalt immer darin bestand, meine Mandanten vor dem Gesetz zu verteidigen.

Ich möchte, dass Du weißt, dass ich als Frau stolz auf die schwere Strafe bin, die gegen mich verhängt wurde, und die Ehre, viele Menschenrechtsverteidiger verteidigt zu haben. Die unermüdlichen Bemühungen der Frauen haben endlich bewiesen, dass wir nicht länger ignoriert werden können, unabhängig davon, ob wir sie unterstützen oder ablehnen.

Ich hoffe auf bessere Tage,

Maman Nasrin

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Brief an ihre Tochter – April 2011

Meine liebste Mehraveh, meine Tochter, mein Stolz und meine Freude,

es ist sechs Monate her, seit ich von euch, meinen geliebten Kindern, weggebracht wurde. Während dieser sechs Monate durften wir uns nur ein paar Mal und selbst dann nur in Gegenwart von Sicherheitsagenten sehen. Während dieser Zeit durfte ich euch nie schreiben, kein Bild empfangen oder euch gar ohne Sicherheitsbeschränkungen treffen. Meine liebe Mehraveh, du verstehst mehr als jede andere den Kummer in meinem Herzen und die Bedingungen, unter denen wir uns bisher treffen durften. Jedes Mal kämpfe ich nach eurem Besuch und an jedem einzelnen Tag mit der Vorstellung, ob ich die Rechte meiner eigenen Kinder berücksichtigt und respektiert habe oder nicht. Ich musste vor allem sicher sein, dass Du, meine geliebte Tochter, an deren Weisheit ich sehr glaube, mich nicht beschuldigt, die Rechte meiner eigenen Kinder verletzt zu haben.

Ich habe dir einmal gesagt: „Meine Tochter, ich hoffe, du denkst nie daran, dass ich nicht an dich gedacht habe oder dass es meine Handlungen waren, die eine solche Bestrafung verdient haben… Alles, was ich getan habe, ist legal und im Rahmen des Gesetzes.“ Damals war es so. Du streicheltest liebevoll mein Gesicht mit Deinen kleinen Händen und antwortetest: "Ich weiß, Mama ... ich weiß ..." Es war an diesem Tag, dass ich von dem Albtraum befreit wurde, von meiner eigenen Tochter gerichtet zu werden.

Meine liebste Mehraveh, so wie ich Deine Rechte nie missachten konnte und immer bestrebt war, sie in vollem Umfang zu schützen, konnte ich auch die Rechte meiner Klienten nie missachten.

Wie konnte ich das Podium verlassen, sobald ich von den Behörden gerufen wurde und wusste, dass meine Klienten hinter Gittern waren? Wie konnte ich sie verlassen, als sie mich als Anwalt eingestellt hatten und auf ihren Prozess warteten?

Es war mein Wunsch, die Rechte vieler zu schützen, insbesondere die Rechte meiner Kinder und ihre Zukunft, die mich dazu veranlassten, solche Fälle vor Gericht zu vertreten. Ich glaube, dass der Schmerz, den unsere Familie und die Familien meiner Klienten in den letzten Jahren ertragen mussten, nicht umsonst ist. Die Gerechtigkeit kommt genau zu dem Zeitpunkt, an dem die meisten die Hoffnung aufgegeben haben.

Ich vermisse dich, meine Liebste, und sende dir hundert Küsse.

Maman Nasrin

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Brief an den Sohn – September 2018

Hallo mein liebster Nima,

ich weiß nicht, wie ich diesen Brief anfangen soll. Wie kann ich vergessen, dass Du dieses Jahr ohne mich und sogar ohne Deinen Vater an der Seite in die Schule hast gehen müssen, und einfach sagen könntest, dass dieses Jahr ein normales Jahr wie jedes andere Jahr ist? Wie kann ich Dich bitten, pünktlich zur Schule zu gehen, Deine Hausaufgaben zu machen, gut zu lernen und ein guter Junge zu sein, bis wir zurückkehren?

Ich würde es hassen, Dir als Mutter solche Worte zu sagen, weil ich weiß, dass Du in Deinem jungen Leben das ständige Trauma durchlebt hast, mich im Gefängnis zu besuchen oder mich nicht besuchen zu dürfen und stets Angst vor Ungerechtigkeit zu haben.

Als Mutter kann ich Dich nicht bitten, meine Existenz zu vergessen und bei sich zu denken, dass Du überhaupt keine Mutter hast, nur damit ich mit gutem Gewissen meiner Arbeit nachgehen und [für Menschenrechte] kämpfen kann. Möge ich niemals so grausam zu dir sein.

***

Mein Job als Anwalt, der im Iran ständig angegriffen wird, zieht mich – und diesmal auch Deinen Vater – in den Bann der Ungerechtigkeit und Feigheit, der die Gemeinschaft der iranischen Anwälte zerstört.

In diesen Tagen denke ich ständig an Dich, daran, wie einsam Du Dich fühlen musst und an unsere liebe Mehraveh, die uns stolz gemacht hat und die jetzt gezwungen ist, für Dich zu sorgen und gleichzeitig deine Mutter und dein Vater zu sein.

Ich sende dir meine Tränen der Liebe in der Hoffnung, dass sie die Ungerechtigkeit unserer Zeit für dich ein wenig erträglicher machen.

Ich sende dir tausende Küsse, denn ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen.

Maman Nasrin

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(aus dem Persischen übersetzt)

 

Zur Person und Arbeit

Nasrin Sotoudeh (geboren am 30. Mai 1963 in Teheran) ist Rechtsanwältin. Das Europäische Parlament zeichnete sie im Jahr 2012 für ihren mutigen Einsatz für Menschenrechte mit dem Sacharow-Preis für geistige Freiheit aus. Sie ist verheiratet mit Reza Khandan. Das Paar hat zwei Kinder. Seit dem 14. April 2013 gehört die renommierte Menschenrechtlerin dem Kuratorium der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte an. Nasrin Sotoudeh setzt sich vor allem gegen frauenfeindliche Gesetze ein und kämpft gegen die willkürliche Verletzung der bestehenden Rechte innerhalb der Islamischen Republik.

Sie war außerdem Mitgründerin der Eine-Million-Unterschriften-Kampagne für Frauenrechte im Iran. Im Iran und weltweit wurde sie bekannt, weil sie als Anwältin Opfer von politischer Willkür und Verfolgung vertrat. Sie verteidigte u.a. die iranische Friedensnobelpreisträgerin Dr. Shirin Ebadi vor Gericht. Gemeinsam mit ihr und anderen iranischen Menschenrechtlern hat sie 2002 das Zentrum für Menschenrechtsverteidiger in Teheran gegründet (Defenders of Human Rights Centre – DHRC). Es war die einzige iranische Menschenrechtsorganisation, die vor Ort tätig war. Das Zentrum wurde 2008 willkürlich und rechtswidrig von den iranischen Behörden geschlossen und 2009 von regierungstreuen Milizen verwüstet.

Willkürliche Verurteilung und Verhaftung

Wegen ihres Einsatzes für Menschenrechte geriet Nasrin Sotoudeh früh ins Visier der iranischen Staatssicherheit. Im Jahr 2010 verurteilte sie ein islamisches Revolutionsgericht zu elf Jahren Gefängnis wegen angeblicher „Propaganda gegen das System“ und „Verschwörung zum Schaden der nationalen Sicherheit“. Darüber hinaus verhängte das Gericht eine 20 Jahre lange Ausreisesperre und ein Berufsverbot als Rechtsanwältin. Die Strafe setzte sich aus einem Jahr Haft für “regimefeindliche Propaganda” und jeweils fünf Jahren wegen “Handlungen gegen die nationale Sicherheit” und “Verstoßes gegen die islamischen Kleidervorschriften in einer Videobotschaft” zusammen – die Anwältin hatte in einer Grußbotschaft, die im Iran nie gezeigt wurde, kein Kopftuch getragen.

Nach intensiven internationalen Protesten – auch im Rahmen des IGFM-Programms für politische Patenschaften – reduzierten die Behörden die Strafe auf sechs Jahre Haft und 10 Jahre Berufsverbot. Am 18. September 2013 kam sie durch “Begnadigung” vorzeitig frei. Während ihrer damaligen Haft protestierte sie mit drei Hungerstreiks gegen die unmenschlichen Haftbedingungen im Evin-Gefängnis. Sie verlor dabei über 14 Kilogramm Gewicht.

Vor ihrer erneuten Verurteilung arbeitete Nasrin Sotoudeh an der Verteidigung zwei junger Frauen, die öffentlich gegen das per Gesetz erzwungene Tragen des Kopftuches protestierten und daraufhin inhaftiert worden waren. Nasrin Sotoudeh ist eine Symbolfigur der iranischen Menschen- und Bürgerrechtsbewegung. Vielfach hat sie Menschen vor Gericht verteidigt, die sonst keinen Anwalt gefunden hätten.

Zur Unterschriftenliste für Nasrin Sotoudeh
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Haftadresse:

Post an politische Gefangene ist oft ein wirksamer Schutz gegen Misshandlungen, denn die Post zeigt dem Gefängnispersonal und den Behörden, dass ein Gefangener im Ausland bekannt ist. Politischen Gefangenen hilft das Wissen, in der Welt nicht vergessen zu sein. Deshalb: Schreiben Sie aufmunternde Worte direkt an Nasrin Sotoudeh ins Evin-Gefängnis:

To Ms. Nasrin Sotoudeh
Evin Prison
Kachoui Alley
Tehran
Islamic Republic of Iran

 

Quelle:https://www.igfm.de/iran/