Gewissensbisse oder Gewissenslücken - wie hätten Sie's denn gerne?
von Rasoul Moatamedi

"Die Banalität des Bösen" macht Fortschritte. Der harte Kern der Systemtreuen im Iran schürt weiter Hass.


Hannah Arendt

Innerhalb des Establishments im Iran gibt es zurzeit grob gesehen zwei Gruppierungen. Beide konkurrieren um die Macht im Land. Die neue Regierung um Rohani und Gruppierungen um den ehemaligen Präsidenten Rafsandschani versuchen das Geldproblem des Landes zu lösen und die Wirtschaft wieder zum Blühen zu bringen, während sie bereit sind Federn zu lassen beim Nuklearprogramm. Dabei setzen sie auf Kooperation mit den USA und dem Westen, während Vertreter einer dem Westen feindlich gegenüber stehenden Fraktion, nennen wir sie mal Hardliner, an ihrem Fahrplan der Weltrevolution und der absoluten Treue gegenüber dem Prinzip des Velayat-e faghi festhalten.

Die Hardliner spucken dem neuen Präsidenten immer wieder in die Suppe, denn sie besetzen noch wichtige Schlüsselstellen im Staatsapparat. Sie steigern die Zahl der Hinrichtungen, sie halten an Gewissensgefangenen fest, die keine allzu große Lobby im Ausland haben, sie weiten die Aktivitäten der Cyber-Armee aus und bedrohen Dissidenten, sie erhaben den Hausarrest der beiden Oppositionellen Karoubi und Mousavi zum Sacrosanctum. Zusammen mit seinem Außenminister Zarif versucht Rohani derweil Deals mit dem Westen auf den Weg zu bringen, die das Nuklearprogramm auf ein Minimalpaket schrumpfen werden, was den Hardliner arg gegen den Strich geht und der Wirtschaft Irans wahrscheinlich bekömmlich sein wird.

Offensichtlich lässt sich Rohani aber nicht zu sehr beeindrucken von den Aktionen der Strippenzieher im Hintergrund. Er weiß wo seine mächtigen Gegner sitzen.

Der aufgedeckte Profiteur
Die Revolutionsgarden haben in den acht Jahren vor seiner Präsidentschaft große Teile der Wirtschaft übernommen und wichtige Posten im Staatsapparat besetzt. Einer der Profiteure dieser Umstände war der Milliardär Babak Zanjani, der den Bassidschi entstammt. Am Montag ist er nun wegen Korruptionsvorwürfen festgenommen worden. Vermutlich war er der Drahtzieher in einem Gold-Deal mit der Türkei, der die Sanktionen umging. Auf türkischer Seite mussten einige Ministersöhne Federn lassen, die den Deal mit eingefädelt hatten und natürlich auch finanziell nicht wenig profitiert haben. Dass Babak Zanjani nun unter Anklage steht, ist sicher nicht den Revolutionsgarden zu verdanken, sondern Teil der politischen Raison des neuen Präsidenten, der damit ein weiteres Signal der Kooperation gen Westen schickt.

Vogel-Strauß-Taktik und sehenden Auges in den Niedergang
"Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß" - ist eine alte Redensart von Leuten, wenn sie zum Ausdruck bringen wollen, dass sie sich für etwas nicht interessieren, denn dann beunruhigt dieses Wissen sie auch nicht und sie können in gewohnten Bahnen ihr Leben weiterleben. Das klingt wie eine unschuldige Variante der etwas gewichtigeren Aussage: "Das Schlimmste sind nicht die Leute, die nichts sehen oder wissen, das Schlimmste sind die Leute, die etwas wissen oder sehen und etwas geschehen lassen, was zerstört."

Hannah Arendt hat über die "Banalität des Bösen" gedacht, geschrieben und gesprochen. Sie nahm den Fall Adolf Eichmann zum Anlass, um sein beschränktes Denken innerhalb eines Systems zu beschreiben, das nicht bis zu den Konsequenzen seines Handelns reichte. Demnach hatte Eichmann sein Gewissen wie einen Hut an einen Nagel gehängt und innerhalb des Nazi Systems perfekt funktioniert. Dass sein Handeln Böses bewirkt hat, hatte er scheinbar ausgeblendet.

"Während des Prozesses gegen [Adolf Eichmann] in Tel Aviv trifft [Hannah Arendt] allerdings nicht auf den dämonischen Bösewicht, den sie und die Welt erwartet hatte, sondern auf einen sturen, bürokratisch und autoritätsgläubig argumentierenden Schreibtischtäter, der sich als reiner Befehlsempfänger verstand. Hannah Arendt ist erschüttert: Da sitzt in ihren Augen kein Mastermind in der Glaskabine, sondern eine Art Hanswurst, ein fast schon lächerlicher Mensch, der in keinem Verhältnis steht zu den Ungeheuerlichkeiten, die er mitgeplant und verantwortet hat."

Die Gehirnwäsche hat Methode
Wenn man sich heute mit der Ideologie des Regimes im Iran und seinen konkreten Auswirkungen auf diejenigen, die vom Regime abhängig sind, beschäftigt, drängt sich der Vorgang einer ungeheuren Deformierung des Denkens bei Menschen auf, die abhängig von den Alimenten des Regimes sind. Darin liegt Potential zu unabsehbaren Gefahren für die ganze Menschheit.

Die Ideologie der Systemvertreter im Iran wird Velayat-e faghi genannt, was mit Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten übersetzt werden kann. Die Theorie dieser Ideologie verlangt gehorsame Untertanen, die das Denken den Systemführern überlassen und absoluten Gehorsam den Anweisungen dieser Führer gegenüber praktizieren sollen.

Viele Iraner der Unterschicht sind staatlich als Bassidschi organisiert, einer Organisation, die den Revolutionsgarden unterstellt ist und als para-militärischer Arm dieser professionellen Elitetruppe gilt. Sowohl Frauen als auch Männer und auch Kinder sind Mitglieder der Bassidschi, die besondere staatliche Vorteile und Förderung genießen. Es soll sich um ungefähr 15 Millionen Menschen handeln, von denen ungefähr 90.000 aktive Dienste als Hilfspolizisten, die auch unabhängig von der Justiz und anderen Institutionen im Iran handeln. Diese Bassidschi Einheiten sind im Grunde Handlanger des Obersten Führers. Sie werden in Bussen zu Demonstrationen gefahren und zum Jubeln oder skandieren bestellt. Oder sie sollen Studenten Proteste niederknüppeln und andere grobe Angriffe durchführen.

Bassidschi sind im Allgemeinen verpflichtet an gewissen staatlichen Unterweisungen teilzunehmen, deren Nachweis ihnen bares Geld, ergo Alimente, einbringt. In diesen Unterweisungen geht es manchmal um lebenspraktische Fragen aber oft genug auch um ideologische Indoktrinationen. Vor allem werden immer wieder einseitig Feindbilder gepflegt: die ekelhaften Zionisten, die bösen Amerikaner, die unreinen Baha'i und die Sufi, die einen sanften Islam und keinen Gewalt verherrlichenden revolutionären Islam leben wollen und dadurch verdächtig sind dem Feind zu dienen. Man kann das getrost organisierte Gehirnwäsche nennen. Die Folgen dieser "Unterweisungen" sind deutlich nachvollziehbar, auch wenn das Regime immer wieder versucht alle diesbezüglichen Nachrichten zu unterdrücken. Baha'i Friedhöfe werden verwüstet, bestimmte Berufe stehen Baha'i nicht frei und viele weitere unrechtmäßige Einschränkungen sind an der Tagesordnung. Sufi-Derwische des größten schiitischen Ordens im Iran sehen sich mit einer Kampagne konfrontiert, die Teile des Establishments voran bringen, während andere Teile dafür sorgen, dass sich die Wellen des entladenen Hasses wieder für eine Weile beruhigen, um das Image der IRI nicht weiter zu ramponieren. Die Kampagnen umfassen Verleumdungen gegen Sufis im Allgemeinen, Geschichtsklitterungen, Angriffe gegen Verantwortliche des Ordens und physische Angriffe gegen Versammlungshäuser und lokale Mitglieder des Ordens und schließlich Gerichtsverfahren, die Derwische als Unruhestifter brandmarken und verurteilen. Die Inhaftierten werden dann in Variationen bedrängt, bedroht oder geschlagen, um Papiere zu unterschreiben, die sie als reuige Sünder dastehen lassen sollen, die sich von ihrem Orden lossagen, was dann wiederum gegen den restlichen Orden als angeblicher Beweis benutzt wird.

Enthemmungen und Dämonisierungen
Doch nicht nur die Unterweisungen von Bassidschi dienen der Enthemmung und Abtötung des menschlichen Gewissens. Dämonisierungen verschiedenster Art finden statt. Dazu gehören zweifelsfrei auch die öffentlichen Hinrichtungen. Die Wirkung dieser Hinrichtungen kann bis zum Spiel mancher Kinder nachverfolgt werden. Es gab auch schon Fälle in denen Kinder eine Hinrichtung nachgespielt haben und tragisch zu Tode gekommen sind. Die Bevölkerung im Iran wurde auch schon während des Irak-Iran Krieges ständig mit Tod und vor allem mit Märtyrertum konfrontiert. Die Propagandisten des Staates, Maddâh genannt, erinnern die Bevölkerung andauernd daran, bereit zu sein ihr Leben zu opfern, denn das so genannte Islamische Leben habe viele Feinde. Die Maddâh sind geschulte Sänger und Rezitatoren. Im Stadion würde man sie Vorsänger oder Einpeitscher nennen. Sie haben meist kräftige tiefe Stimmen und beherrschen Rhythmen, die den Verstand des Zuhörers aussetzen lassen, um danach zu Gewalttaten angestiftet zu werden. Als 2005 das Sufi Versammlungshaus in Qom von Bassidschi und Pasdaran Kräften zerstört wurde, haben Maddâhs die Bassidschi zunächst mit ihren Gesängen aufputschen müssen bevor 20.000 Bassidschi gegen 1.400 Derwische vorgingen und schließlich mit Schusswaffen, Messern und Molotowcocktails den Schutzring der Sufis um ihr Versammlungshaus durchbrechen konnten.

Iran hat trotz der intensiven Internet Zensurmaßnahmen eine sehr hohe Rate an Internetnutzern. So hat das Regime entdeckt, dass das Internet anstatt verboten zu werden für eigene Propagandazwecke genutzt werden sollte. Die vor drei Jahren aufgestellte Cyber-Armee schult viele Bassidschi zu Internet Agenten mit verschiedenen Zielen, die von Verleumdung von unerwünschten Gruppen oder Personen oder Verherrlichung des Regimes und seiner Verdienste bis zur Zerstörung von Webseiten und Ausspähen von Gegnern reichen. Alles im Dienst des Systems. Technisches Denken ist da gefragt, aber ausgewogenes Denken in Zusammenhängen oder ein menschliches Maß anzusetzen sind eher hinderlich. 

...und was hat das mit mir zu tun?
Jetzt könnte man zu einem Schluss kommen, der immer wieder in Internetforen auftaucht oder an Stammtischen zu hören ist: "Das ist ja alles schön und gut, aber was hat das mit uns in Europa zu tun? Das ist ja auch alles gar nicht so schlimm, denn die Baha'i und die Sufis würden ja nicht zu Tausenden getötet, wie das mit anderen Gruppen in anderen Zeiten und Ländern geschehen ist und aktuell geschieht."

Gewalt erzeugt Gegengewalt und eine Gewaltspirale entsteht in der immer mehr Menschen gefangen sind. Verbrechen werden an Beteiligten und Unbeteiligten verübt. Es entstehen Abstumpfungseffekte, die Gewalt wird immer brutaler, hintertriebener. Das ganze Denken und Trachten der Akteure kreist nur noch um Gewaltanwendung. Mehr und mehr Gruppen mit eigenen Zielen und Vorstellungen werden in die Gewaltspirale hineingesogen und der Überblick über Freund- und Feind wird unmöglich, weil sich Bündnisse und Teilbündnisse in kurzer Zeit bilden und wieder auflösen.

Diese Situation findet sich derzeit in Syrien, das zu einem Schauplatz für Stellvertreterkriege und unbeschreibliche Gräueltaten auf beiden Seiten geworden ist. Diesen Gräueltaten sind Dämonisierungen bestimmter Gruppen vorangegangen, die letztlich in der Gewaltspirale gemündet sind, die wie eine Wolke aus giftigen Partikeln sich auch nach Europa ausbreitet.

Das Regime im Iran betrachtet Syrien als den Vorhof zu seinem Territorium und als einen der letzten Verbündeten in der Region. Die Revolutionsgarden haben von Anfang des Bürgerkriegs in Syrien klargemacht, dass sie Syrien mit Zähnen und Klauen verteidigen werden. Deshalb mischen die Revolutionsgarden in den Kämpfen in Syrien von Beginn an mit, was das Regime anfangs noch geleugnet hat und mittlerweile Heldenbegräbnisse für seine in Syrien getöteten Märtyrer organisiert, die auch in der Presse benannt werden.

Neben vielen anderen Konfliktlinien der Auseinandersetzungen in Syrien spielt der lange währende religiöse Antagonismus zwischen Schiiten und Sunniten eine große Rolle. Hier werden historische Ereignisse aus den Anfängen der arabischen Eroberungen und Nachfolgestreitigkeiten herangezogen. Doch nun hat dieser Antagonismus der Glaubensbekenntnisse eine für das Regime im Iran erschreckende Wendung genommen. Bisher war der Gegner in Syrien meist klar: Säkulare, Zionisten und Sunniten. So konnten gewisse staatstreue schiitische Ayatollahs im Iran Rechtsgutachten erlassen, die den Kampf gegen eindeutige Gegner rechtfertigten. Eine der berühmtesten Fatwas vom Führer der Revolution im Iran hatte im Verbund mit anderen Fatwas schiitischer Autoritäten auch den Zweck verfolgt die Muslime weltweit hinter sich zu bringen im Kampf gegen den dekadenten Westen.

Führungsrolle verspielt
Nach den Ereignissen der gefälschten Präsidentschaftswahlen von 2009 haben die schiitischen Autoritäten allerdings viel von ihrem Führungsanspruch unter den Muslimen weltweit eingebüßt. Nicht nur unter Sunniten, bei denen sie sich zum Teil den Ruf als Kämpfer an vorderster Front gegen den Westen erworben hatten.

Inzwischen ist es sogar soweit, dass schiitische Gelehrte aus dem irakischen Nadjaf Rechtsgutachten erlassen, die das Regime im Iran und seine Interpretation des schiitischen Islams als dekadent darstellen und zum Kampf gegen iranische Schiiten aufrufen. Damit wird die Situation in Syrien und auch im Irak langsam unübersichtlich für die Iraner und sehr bedrohlich für das Regime. Kürzlich warnte Rajabi Davâni, ein schiitischer systemtreuer Historiker aus dem Iran, vor Eskalationen in den sunnitisch-schiitischen Antagonismen und warf dem Westen vor diese Konflikte in den muslimischen Gesellschaften zu platzieren und zu schüren.

Ein Blick in die Geschichte des Nahen Ostens wird diese Einschätzung nicht widerlegen, aber auch nicht isoliert dastehen lassen können. Radikale Fanatiker haben schon über viele Jahrhunderte religiöse Ideen vorgeschoben, um andere Menschen im Namen Gottes zu absolutem Gehorsam zu zwingen.

Seit Iran einen religiösen Staat übergestülpt bekommen hat, ist dort ein System geschaffen worden, das Hass verbreitet und Menschen sehr einseitig indoktriniert. Der Mensch zählt als Individuum nichts, sein Leben muss er einem vom Staat definierten Gott huldigen und um diese Zustände auf der ganzen Welt zu ermöglichen, muss der Einzelne auch sein Leben bereitwillig opfern. Das Gewissen des Individuums und seine Eigenverantwortung werden ausgeschaltet. Diese ideologisierte Reduzierung des Menschen als willfähriges Instrument im Namen Gottes für eine bestimmte Clique hat das System im Iran während des Irak-Iran Krieges erproben können.

Inzwischen scheint sich die Tendenz Menschen ohne Gewissen und Eigenverantwortlichkeit zu züchten auch in anderen Machtbereichen ausgebreitet zu haben und zwar nicht zum Vorteil des Regimes im Iran.

Und genau diese Tendenz ist etwas, was uns auch als Europäer betreffen wird. Tendenzen haben die Eigenschaft sich unmerklich einzuschleichen bevor sie mit voller Wucht auftreten und schockartige Wirkungen hinterlassen.

Das menschliche Maß
Was Hannah Arendt als "Banalität des Bösen" bezeichnet hat, ist auf bestem Wege systematisiert zu werden und zu einer Zerstörung-zulassenden-Betrachtungsmentalität zu werden. In einer Welt wirtschaftlicher Super-Effektivität, in der das Denken ohne Geländer für viele bedrohlich erscheint und Menschen sich in unablässige Vergnügungen stürzen oder sich in persönlichen Wohlfühloasen einkapseln, droht das menschliche Maß verloren zu gehen. Um ein menschliches Maß zu finden braucht es das gesunde Gewissen, das sich nicht durch selbstzerfleischende Gewissensbisse in eine innere Ohnmacht steigert, sich aber auch nicht an der Stelle wo ein Gewissen heranreifen sollte mit einer Lücke zufrieden geben will. Das menschliche Maß wird angemessene Antworten finden auf derlei Bedrohungen. Und da das menschliche Maß keine Patentlösungen oder Standardantworten parat hat, wird es viele verschiedene Antworten geben. Die Frage bleibt offen, ob wir uns die Gewissensfrage stellen und was wir danach tun.

Quelle: http://mehriran.de/artikel/gewissensbisse-oder-gewissensluecken-wie-haetten-sies-denn-gerne.html