Stimmen der Verzweifelnden

Helmut Gabel

mehriran.de - Iran ist als repressiver Staat verrufen. Seit Jahrzehnten begehrt die Bevölkerung immer wieder gegen das Regime auf. Mal sind es protestierende Frauengruppen, mal sind es skandierende Studenten - dieses Mal gingen die Proteste von Arbeitern und ökonomisch abgehängten Menschen aus. Der Versuch einer Einschätzung auf Basis langerjähriger Studien und vieler aktueller Gespräche mit Iranerinnen und Iranern im In- und Ausland.


Khastar und Khamenei als Gegensätze (Bild mit herzlichem Dank an Dorr TV)

 

Paradies Iran

Iran gleicht einem bunten Teppich. Seine Menschen und ihre Abstammung, ihre Sprachen, die Landschaften, Kulturen und Religionen bergen eine reiche Vielfalt. Europäer, die sich auf den Weg machen diese faszinierende Region zu erkunden, sind oft beeindruckt von der grandiosen Gastfreundschaft der Menschen vor Ort, den Zeugnissen lebendiger Architektur oder den geschichtsträchtigen Felsinschriften.

Persisch ist eine der Hauptsprachen Irans. Im Laufe der letzten 4 Jahrtausende hat sie Lehnworte aus dem Sanskrit, dem Aramäischen oder dem Arabischen aufgenommen, aber auch andere Sprachen, wie z.B. das Türkische, bereichert. Es ist eine Sprache, die schon im Buch der Könige (Schāhnāme), dem berühmten Nationalepos des Dichters Ferdosi, reich an Metaphern und Heldengeschichten das Herz der Zuhörer bewegt. Gleichwie die weltweit geliebten Gedichte der Mystiker und Dichter Rumi, Hāfis, Sa'adi oder Omar Chayyām das Herz bewegen. Manche Gäste aus Europa suchen bei ihren Aufenthalten im Iran den Zauber von Rosenduft und Paradies, der in vollendeten Gedichten gepriesen wird.

"Diese Luft erinnert an des Paradieses Hauch, die mich vom Garten umfächelt,
Hier freu ich mich des Weines auch, wo der Liebsten Auge samten lächelt."

Hafis

Unruhige Zeiten im Iran

Es läuft nicht alles schlecht im Iran. Man muss nur mit den richtigen Personen verbunden sein oder in Familien hinein geboren werden, die wichtige Posten im Wirtschaftsgeflecht der Pasdaran innehaben und gerade nach Aufhebung der Sanktionen stark profitiert haben. Die aus den USA frei gewordenen Milliarden sind beim Durchschnittsbürger nicht angekommen.

Die Bevölkerung hat mit allen möglichen Herausforderungen zu kämpfen. Die Palette reicht von Naturkatastrophen wie Erdbeben, Dürre oder Sandstürme über Flüchtlingsströme aus Afghanistan, Smog, Armut, Drogen, Prostitution, Verwahrlosung und eine hohe Arbeitslosenquote bei Menschen unter 25 Jahren. Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre hat das bei immer mehr Menschen zu prekären Lebensverhältnissen im Iran geführt.

Obdachlose schlafen in leeren Gräbern auf Friedhöfen, Straßenkinder suchen Schutz in Mülltonnen oder alten Kartonagen. Familienväter schleppen sich von ihrem Hauptjob über einen bis zwei Nebenjobs in die kurze Nacht, bevor die Mühle von neuem beginnt. Es heißt, dass so mancher seine Organe verkauft, um seine Familie zu ernähren oder seinen Kindern eine Perspektive zu bieten.

Dazu kommen politische Repressalien, Korruption der Behörden, kulturelle Zwänge, mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit und eine Märtyrer-Ideologie im Zusammenhang mit der "islamischen Revolution", der sich der Staat in Anlehnung an den Revolutionsführer verpflichtet hat.

Eigentlich waren die Revolutionäre 1979 angetreten, um der Religion mehr Raum zu verschaffen und nach „göttlichen Prinzipien“ zu regieren. Doch sie haben die Religion missbraucht und ruiniert. Viele sind enttäuscht von jenem Islam, den der Staat propagiert. Sie lehnen alles was mit Religion zu tun hat, ab oder wenden sich dem Sufitum zu. Vor allem der Schah-Nematollah-Gonabadi Orden verzeichnete in den letzten 12 Jahren hohe Zuwächse an Mitgliedern. Das Grab seines Begründers Schah Nematollah Vali liegt in Mahan und wird gerne von Touristen besucht.

Der für zahlreiche Todesurteile, inklusive Steinigungen, bekannte Richter Mahmud Haschemi Schahrudi, der sich kürzlich in Deutschland zu einer medizinischen Behandlung aufhielt, hat in seiner Zeit als Kopf der Justiz (1999 - 2009) auch die Schließung der Versammlungshäuser dieser Derwische angeordnet. Der Staat beansprucht das Monopol auf den Glauben und die Weltanschauung der Menschen. Das hat zu Auseinandersetzungen mit den Derwischen geführt, die den Obersten Führer des Landes nicht als ihr geistiges Oberhaupt anerkennen. Auch einige Geistliche wie Ajatollah Boroudscherdi treten für eine Trennung zwischen Religion und Staat ein, wodurch sie und ihre Anhänger gravierende Probleme mit dem Regime bekommen haben.

In den vom Staat betriebenen Moscheen versammeln sich hingegen die hartgesottensten Regimeanhänger. Für sie sind Moscheen nicht allein Gebetsräume, sondern Räume für Propaganda und Hetze gegen die vermeintlich Schuldigen an der Misere: USA, Israel, Saudi-Arabien. An allem, was schlecht läuft im Iran, sind die Erzfeinde aus dem Ausland schuld.

Wer Kritik am Regime äußert, läuft schnell Gefahr als Feind der Nation oder Söldner einer ausländischen Macht bezeichnet zu werden. Die Liste der Nöte im Land ist groß, die Maßnahmen der Offiziellen das allgegenwärtige Leid aufzufangen gering.

Als es im November 2017 in der von Kurden bewohnten Provinz ein Erdbeben mit über 300 Toten gab, schaffte es der in militärischen Angelegenheiten sehr gut aufgestellte Staat trotz Präsident Rohanis Versprechungen nicht, der Notlage angemessene Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Man kann das als Zeichen werten, wie viel Durchgriff der Tiefenstaat Präsident Rohani gewährt. Sein Auftrag lautet das Land aus der Misere zu führen, dafür hat ihn vor allem die bürgerliche Mittelschicht in den Städten gewählt.

Doch es gibt zu viele Heilige Kühe, die von den erzkonservativen Revolutionären mit eisernen Händen gehütet werden. Rohani hat den Atom-Deal geschlossen und einige Wirtschaftsbeziehungen in Gang gebracht. Viele seiner Versprechungen sind jedoch untergegangen. Die Situation der Minderheiten im Iran hat sich nicht verbessert, die Menschenrechtssituation darbt, politische Strafgegangene erleiden weiterhin unfaire Prozesse, die Todesstrafe ist an mehr Menschen ausgeführt worden als in der Zeit vor Rohani. Zusätzlich hat sich der Iran durch seine Revolutionsgarden in Syrien, im Irak und sicher auch im Jemen militärische Konflikte aufgehalst, die Irans Einfluss in der Region haben wachsen lassen, doch sind sie nicht bei allen Menschen positiv aufgenommen worden. Die Konflikte müssen Unsummen verschlungen haben, Geld das nicht bei den Armen angekommen ist. Und plötzlich erfahren wir von den Unruhen Ende des alten Jahres, die sich ins neue Jahr hineingezogen haben.

Shir-e mard

In der heiligen Stadt Maschhad steht der Imam-Reza-Schrein, eines der größten schiitischen Heiligtümer. Vor dem Rathaus der Pilgerstadt versammelten sich am 28. Dezember 2017 mehrere hundert Menschen und skandierten gegen miserable wirtschaftliche Bedingungen. Binnen zwei Stunden wandelten sich die Sprechchöre, die gegen Präsident Rohani gerichtet waren, in Parolen gegen den Obersten Führer Chamenei und das gesamte Regime. Eine weitere Stunde später gingen in fünfzig weiteren Provinzstädten Menschen auf die Straßen. Schnell beschuldigte das Regime die üblichen Verdächtigen.

Der Vertreter des Obersten Führers in dieser Provinz, Ahmad Alamolhoda, soll die Demonstration veranlasst haben. Alamolhoda ist der Schwiegervater von Ebrahim Raisi, Direktor einer schwerreichen religiösen Stiftung. Raisi ist bei der letzten Wahl gegen Präsident Rohani gescheitert. Alamolhoda musste bereits zu seiner Rolle beim Lostreten der Proteste vor dem Nationalen Sicherheitsrat aussagen.

Die Proteste zogen sich länger als eine Woche hin. Sie ebbten ab, als die Sicherheitskräfte zahlenmäßig deutlich überlegen auftraten und das Regime einen Gegen-Demonstrationszug mit seinen engsten Anhängern organisieren konnte.

Seither sollen zwischen 23 und 50 Menschen getötet worden sein. Um die 3000 Personen kamen in Haft, das Schicksal der meisten ist ungewiss. Drei Menschen sind unter ungeklärten Umständen in Haft verstorben.

Lehrer, Krankenpfleger und Fabrikarbeiter hatten schon zwei Jahre zuvor begonnen zu demonstrieren. Jeden Tag waren es mehr Demonstrationen geworden. Immer ging es um unbezahlte Gehälter oder um von Schließung bedrohte Fabriken. Auch im mondäneren Teheran fanden Proteste statt, doch sie fanden vor allem bei Sicherheitskräften Beachtung.

In einem Interview mit dem Internetkanal DorrTV warnte der Sprecher der Lehrer in Chorasan, Haschem Chastār schon vor zwei Jahren: „Unsere Regierung und unsere Führer haben den Kontakt zu den Nöten der Menschen verloren. Wir sitzen auf einem riesigen Pulverfass. Es braucht nur einen Funken!“ Chastār setzt sich ein für das Recht der Lehrer, sich in Gewerkschaften zu organisieren. Dafür hat er bereits drei Gefängnisstrafen verbüßt.  Chastār fügte in einem späteren Interview hinzu: „Sie wollen einen Führer – eine Person ist der Hirte und alle anderen sind die Schafe. In diesem Regime müssen die Menschen blind gehorchen und ja nichts in Frage stellen.“ Chastār ist kein Einzelfall in seinem Dulden und Engagement. Menschen unterschiedlicher Berufe, unterschiedlicher Bildungsgrade und sozialer Herkunft wagen trotz drohender Strafen Kritik zu äußern. Die Rechtsanwältin Nasrin Sotoudeh berichtet regelmäßig über die Situation politischer Gefangenen im Iran, scheut sich nicht mit ausländischen Sendern zu sprechen, der Derwisch und Blogger für Madschzouban-e Nour, Kasra Nouri, filmte während der Unruhen und wurde prompt festgenommen, Mohammed Maleki war Rektor der Universität Teheran und geht jetzt so oft es seine Gesundheit erlaubt auf die Straße, um für die Freilassung Gewissensgefangener zu demonstrieren. So gibt es viele weitere Personen, die Haftstrafen verbüßt haben und aus ihrem bisherigen Leben gedrängt wurden. Doch sie geben nicht auf. Hier klingt das alte Motiv des ritterlich gesinnten Javânmard an, der von seinem Leid absieht und sich für andere Menschen einsetzt. Oft werden diese Menschen mit Löwen verglichen und dadurch shir-e mard genannt.

Dieser Geist wurzelt in dem weltberühmten Heldenepos "Schahname" von Firdausi aber auch in den Zeilen eines Sa'adi Schirazi:

"Die Kinder Adams sind aus einem Stoff gemacht,
als Glieder eines Leibs von Gott, dem Herrn, erdacht.
Sobald ein Leid geschieht nur einem dieser Glieder,
dann klingt sein Schmerz sogleich in ihnen allen wieder .
Ein Mensch, den nicht die Not der Menschenbrüder rührt,
verdient nicht, dass er noch des Menschen Namen führt.
"

Grabenkämpfe

Das Tauziehen um Investitionen und Mittel zwischen den beiden politischen Lagern mündete in die Entscheidung religiösen Stiftungen und den Revolutionsgarden mehr Geld zukommen zu lassen und Lebensmittel- und Benzinsubventionen, sowie andere Unterstützungen für Ärmere zu kürzen oder zu streichen. Als dies öffentlich bekannt wurde, stieg der Unmut sprunghaft an. Der Fluss der Mittel gewährt Einblicke in die politischen Schwerpunkte der Kräfte hinter Chamenei. Sicherung der Deutungshoheit zu Islam und der Islamischen Republik über die Bindung der Armen an die religiösen Stiftungen und Erfüllung des in der Verfassung festgeschriebenen Ziels die Revolution zu exportieren.

Religiöse Institute (Bonyads) wie die Astan-Quds-Razavi-Stiftung nehmen Jahr für Jahr Millionen von den gläubigen Pilgern ein. Sie entziehen sich sowohl der Verpflichtung Steuern zu bezahlen, als auch einer Kontrolle durch das Parlament. Rohani fordert beides. Doch die Stiftungen sind aufs Engste verzahnt mit den Revolutionsgarden und weigern sich Einblicke zu gewähren.

Der Revolutionsexport ist Aufgabe der Quds-Armee, die wiederum ein Teil der Revolutionsgarden ist. Die Quds-Armee arbeitet als eine Art Schatten-Holding-Gesellschaft, die in verschiedenen Ländern wie Libanon, Jemen oder Irak Verbündete hat. Diese Verbündete treten als eigenständige Einheiten auf, werden aber im Hintergrund sowohl ideologisch und strategisch als auch ökonomisch und militärisch von Quds Generälen geschult und geführt. Diese Aufgaben erfordern riesige Summen. Das Budget der Revolutionsgarden für 2017 soll 40 Milliarden USD betragen haben.

Rohani indes müht sich einen moderateren Kurs im Land durchzusetzen, wie das vor seiner Zeit schon die ex-Präsidenten Chatami und der vor einem Jahr unter ungeklärten Umständenverstorbene Pragmatiker Hashemi Rafsandschani versucht haben.

In Bezug auf die jüngsten Unruhen vertritt Rohani eine integrative Position. So wird er bei einem Treffen mit Vertretern des Wirtschafts- und Finanzministeriums mit folgenden Worten zitiert:

"Manche glauben, die Demonstranten würden nur für mehr Geld und bessere wirtschaftliche Bedingungen auf die Straße gehen. Kennen Sie jemanden, der sich mit einem monatlichen Gehalt zufriedengibt, wenn gleichzeitig soziale Medien komplett abgeschaltet sind, die räumliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist und man kein Recht zu reden hat? Man kann die Freiheit und das Leben der Menschen nicht kaufen. Warum wollen manche an der Wahrheit vorbeischauen? Das ist eine grobe Beleidigung der Menschen." Später ergänzte Rohani: "Die Menschen haben ökonomische, kulturelle, soziale und die Sicherheit betreffende Forderungen. Wir müssen allen Forderungen Rechnung tragen. Wenn die junge Generation die Mehrheit im Land stellt, müssen wir unsere Entscheidungen nach ihren Wünschen ausrichten."

Wie Ernst Rohani solche Forderungen meint oder ob sie nur zur Beruhigung der großstädtischen Mittelschicht und ausländischer Beobachter ausgesprochen sind, ist schwer zu ermessen. Sein Widersacher im höchsten Staatsamt, Ali Chamenei, benannte in seiner jüngsten Predigt drei "ruchlose Spieler", die für die Unruhen im Iran verantwortlich zeichnen: "Es gibt Hinweise darauf, dass ein Triumvirat an Protagonisten beim Zustandekommen der jüngsten Ereignisse beteiligt war. Einerseits besteht es aus den USA und den Zionisten (gemeint ist Israel), die seit Monaten an diesem Plan gearbeitet haben... andererseits sind es die reichen Staaten am Persischen Golf... und die dritte Seite besteht aus den Söldnern, die mit den mörderischen Heuchlern (gemeint sind die Volksmudschahedin oder MEK) verbunden sind."

Neben seinen üblichen Anschuldigungen, forderte Khamenei die Behörden auf zu untersuchen, ob die Verhafteten Feinde des Regimes oder einfache Gemüter sind, die etwas Orientierung bräuchten: "Wir sollten mit den Studenten und denjenigen, die sich den Auseinandersetzungen aus emotionalen Gründen angeschlossen haben, sprechen und sie aufklären. Doch jene, die als Spielfigur der Heuchler gehandelt haben und Menschen getötet haben, sollten eine andere Behandlung erfahren."

Ob Khamenei damit eine Behandlung der Regimefeinde meint, wie sie drei jungen Männern jüngst wiederfahren ist, ist nicht ganz klar. Die drei jungen Männer, Mohsen Adeli, Vahid Heidari und Sina Ghanbari sind nach ihrer Verhaftung im Gefängnis gefoltert und getötet worden. Ihre Tode wurden von den Behörden als Selbstmord deklariert. Menschenrechtler zweifeln an dieser Darstellung. Insgesamt sollen bei den jüngsten Unruhen zwischen 23 und 50 Menschen getötet worden sein. Einige Gefangene scheinen mittlerweile aus dem Evin Gefängnis entlassen worden zu sein.

Die Bedeutung der neuen Medien im Iran

Der Kurznachrichtenkanal Telegram erfreut sich im Iran hoher Beliebtheit. Das besondere bei Telegram ist, dass selbst bei niedrigen Internetgeschwindigkeiten Nachrichten ausgetauscht und Videos hochgeladen werden können.

Die Regimeverantwortlichen lassen den Dienst der Brüder Durow zu, lesen mit und nutzen selbst den Kanal, um eigene Propaganda zu verbreiten. So öffnet sich eine mediale Wiese für die Bevölkerung, um Frust abzulassen, die jedoch von den speziell dafür ausgebildeten Zuarbeitern des Regimes überwacht und kartographiert wird, um zum besten Zeitpunkt einzugreifen. In den letzten zehn Jahren haben die Regimeverantwortlichen die Bedeutung der Nachrichtenverbreitung über Online-Medien erkannt. Seither hat die neu eingerichtete Cyber-Armee mehr und mehr Terrain auch auf diesem Feld gewonnen. Ein Geflecht an Propagandaseiten sorgt für die Verbreitung von Ausgrenzung, Rufmord und Hass. Teure deutsche Überwachungs-Software sorgt für ein intensives Monitoring und unreguliertes Sammeln unendlich vieler Daten von Verdächtigen oder von Leuten, die ausgeschaltet werden sollen. Auch wenig spektakuläre aber durchaus effektive Hackeraktivitäten durch Regimefreunde sind weltweit zu verzeichnen.

Durch die vielen Nachrichtenkanäle und Möglichkeiten Online-Informationen zu teilen, sind bei den Unruhen zum Jahreswechsel 2017/18 viel mehr Videos und Informationen aus dem Land gekommen als noch 2009. Die Anzahl der Endgeräte hat sich von 10 Millionen auf über 40 Millionen vervierfacht, es wächst eine neue Generation heran. Laut Behörden im Iran sind bei den jüngsten Unruhen 90% der verhafteten Menschen unter 25 Jahren und viele davon noch nicht 18 Jahre alt. Sie haben sich über Telegram verständigt.

Über die Nachrichten Kanäle, die das Internet zugänglich macht, lassen sich auch klassische Medien aus dem Ausland erreichen. Zwar gibt es mit den persischen Abteilungen der VOA, DLF und BBC einige westliche Fernseh- und Radiosender, die auch im Iran gesehen und gehört werden, doch die Iraner trauen auch diesen Sendern nicht, seit sie wissen, dass Angestellte und Journalisten, die für die Sender arbeiten, oder ihre im Iran lebenden Angehörigen vom Regime bedroht werden.

Zunehmender Beliebtheit erfreut sich der Intersender DorrTV, der unabhängig ist und sich mit geringen Mitteln auf Inhalte statt auf elegante Formen konzentriert. Die Macher von DorrTV geben sowohl Iranern im Inland als auch im Ausland die Möglichkeit ihre Stimme zu Gehör zu bringen. Offensichtlich nutzen auch Geheimnisträger DorrTV, um politische Gegner ins Wanken zu bringen. So war DorrTV der erste Kanal, der die Existenz zahlreicher Geheimkonten mit umgerechnet 250 Millionen Euro des Justizchefs Sadegh Laridschani aufdeckte DorrTV sendet aber auch regelmäßig Vorträge des Rechts- und Islamwissenschaftlers Seyed Mostafa Azmayesh. Azmayesh lebt seit 40 Jahren im Pariser Exil und vertritt eine friedliebende, auf menschliche und Gesellschaftsentwicklung basierende und konziliante Islam und Koran Interpretation. Seine Argumente werden inzwischen auch bei den Theologen in Qom gehört. So wurde die Steinigung 2009 aus dem Strafenkatalog entfernt, weil Azmayesh hieb- und stichfest aufzeigen konnte, dass Steinigungen eine Strafe war, die von Despoten angewandt wurde und durch den Koran kritisiert werden.

Islamische Republik Iran

Iran hat eine bewegte Zeit hinter sich seit 1979 Schah Mohammed Reza Pahlavi sein Land verlassen musste. Als eine breite Koalition verschiedener Schichten und Gruppen der iranischen Gesellschaft ihre Revolution an Ayatollah Chomeini und die Garden hinter ihm übertrug, nannte sich das Land Islamische Republik Iran. Man ließ die Bevölkerung in zwei Referenden über die Verfassung abstimmen, deren Ergebnisse zu dem heute etablierten System des Velayat-e faghi (Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten) geführt haben. Nach dem Tod Chomeinis 1989, kam der jetzige Führer Ali Chāmenei in die Position des Stellvertreter Gottes auf Erden. Diese Position impliziert eine enge Verquickung zwischen Religion und Staat. Die Staatsräson gibt auch die Richtung der Religion vor, die sogenannte Zwölfer-Schia, deren wesentliches Credo darin besteht, dass der zwölfte legitime Nachfolger des Propheten Mohammed nicht gestorben ist, sondern seit Jahrhunderten im Verborgenen weiterlebt. In der allgemein-schiitischen Vorstellung kehrt dieser "verborgene Imam" eines Tages zurück und bringt Gerechtigkeit für alle Unterdrückten. In der Staatsideologie, die im Wesentlichen von Ayatollah Chomeini formuliert wurde, spielt diese messianische Erwartung eine große Rolle. Chomeini hat eine Konkretisierung eines unspezifizierten Zeitraums vorgenommen. Aus einer passiven Rolle der Schiiten, die für einen nicht formulierten Zeitraum auf ihren Erlöser warten, brachte Chomeini die Schiiten in eine aktive Rolle. Die Schiiten sollten aktiv sein und sich gestaltend in die Bildung einer gerechten Gesellschaft einbringen. Ein weiterer Aspekt der schiitischen Überhöhung ist der Märtyrerkult, in dem es darum geht, sein Leben mit voller Begeisterung für sein Land, seinen Führer, für die Religion zu geben, in Erwartung paradiesischer Belohnungen. Eine Art Ablasshandel.

Verschärft wurde dieser Aspekt durch die wirren Thesen eines iranischen Gelehrten, die von seinen Schülern nach Chomeinis Tod in die Kaderschulungen der Revolutionswächter und Bassidschi im Zusammenhang mit der Staatsideologie eingeflochten wurden. Der sich auf Heidegger berufende Ahmad Fardid hat in den 70er Jahren eine Philosophie von der "Zeit nach dem Morgen" propagiert, die sein Schüler Prof. Reza Davari später in den Köpfen der Regime Ideologen verankert hat. Der Kern dieser Ideologie verteufelt den Westen und seine Errungenschaften und träumt von einer goldenen Zeit nach unserer Zeit. Die Anhänger werden ermutigt, aktiv für die schnelle Rückkehr des verborgenen Messias zu sorgen. Die Umstände der Rückkehr sind beschrieben: Ungerechtigkeit, Chaos, Blutvergießen. Während also Chomeini für eine aktive Gestaltung der Politik der sonst passiven Schiiten eintrat, brachte Fardid die nötige Prise Gift ins Spiel, um Gewalt mit dem Ziel der Zerstörung der Welt zu legitimieren und zu forcieren.

In den letzten Jahren haben sich grob gesehen zwei politische Fraktionen innerhalb des politischen Establishments gebildet. Zum einen existiert eine pragmatische-Reform-orientierte Fraktion, mit guten Beziehungen zum Westen, die hauptsächlich von einer gebildeteren Mittelschicht getragen wird. Zum anderen gibt es eine prinzipientreue-konservativ-fundamentalistische Fraktion. Die erste Fraktion stellt momentan die Regierung mit Präsident Rohani. Die zweite Fraktion neigt mehr zum Obersten Führer Ali Chamenei und seinen Anhängern bei den Pasdaran, Bassidschi und in der Justiz. Trotz einiger ernsten Differenzen in Bezug auf Methodik und Schwerpunkte in der Führung des Landes, ist die Erhaltung des Systems die gemeinsame Konstante beider Fraktionen. Der Präsident heißt zwar Rohani, doch seine Widersacher aus dem Lager des Obersten Führers Chamenei werfen seinen Initiativen Steine in den Weg und verhindern jegliche Änderungen. Ein Spiel das schon in der Zeit des pragmatisch orientierten Präsidenten Rafsandschani und des moderaten Präsidenten Chatami gespielt wurde.

Sie haben nichts außer dem Leben zu verlieren

Seit ungefähr zwei Jahren finden im Iran regelmäßig Proteste von Arbeitern gegen Arbeitsplatzabbau, Werksschließungen und Zahlungen ausstehender Löhne statt. Krankenschwestern, Lehrer oder Busfahrer bringen konstant ihre Anliegen in den Straßen vor. Sie lassen sich vertreiben, schlagen, inhaftieren, aber kommen wieder zusammen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Für weitere Unruhe sorgte der Skandal um die sogenannten Mālbāchtegān, die Geldverlierer. Viele Iraner hatten dem Versprechen einiger von der Iranischen Zentralbank gestützten Institute auf bis zu 25% Gewinn vertraut. Ihre Einsätze sind komplett verloren. Proteste gegen das Zustandekommen dieser Verluste wurden zerschlagen, Protestierende inhaftiert.

All diese Umstände haben in den letzten Dezembertagen die Verzweifelten in den Provinzstädten auf die Straße strömen lassen, wo nicht nur die ökonomischen Bedingungen kritisiert, sondern beträchtlich viele Rufe für ein Ende des Regimes und dem Ende des Obersten Führers laut wurden. Wer im Iran auf die Straße geht und sich mit den Sicherheitskräften anlegt, muss schon sehr verzweifelt sein.

Die Rolle des Westens

Ist denn das Ende des Regimes in Sicht? Obwohl die Art der Demonstrationen für die allermeisten Iran Beobachter überraschend kamen, haben sie nicht die Wucht erreicht, die einen durchmilitarisierten Staat umwerfen könnten. Die bürgerliche Mitte in Teheran und anderen Großstädten hat wenig Hoffnung gehabt, dass diese Demonstrationen irgendwohin führen. Sie hat sich dieses Mal kaum beteiligt. Zu spontan hat sich der Volkszorn entladen. Die Richtung scheint nicht deutlich, Anführer mit politischen Gewicht haben gefehlt.

Die Solidarität eines großen Teils von Exiliranern in Norwegen, Schweden, den USA oder Deutschland war auf den Straßen und in den Medien dieser Länder zwar sichtbar und hörbar, doch die westlichen Regierungen sind sich uneins im Umgang mit Iran. Dadurch senden sie kein geschlossenes Signal einer eindeutigen Unterstützung an die oppositionellen Kräfte im Iran.

In den USA ist der Regime-Change mit der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten durchaus eine favorisierte Option, auch wenn sich die wenigsten Verantwortlichen in ein militärisches Abenteuer stürzen wollen. Dieses Szenario liegt aber ebenfalls in den Schubladen der Sicherheitsdienste. Seit Jahren bestehen Kontakte zwischen Politikern wie John Bolton, Ted Kennedy, Newt Gingrich oder Rudy Giuliani und der Führerin der MEK, Marjam Rajavi. Nach Jahren auf der Terrorliste, sind die Volksmudschahedin (MEK) sowohl in Europa als auch in den USA wieder davon gestrichen worden. Das Szenario einer militärischen Intervention in Iran sieht eine Beteiligung der straff organisierten Volksmudschahedin vor. In Nevada soll es Trainingscamps geben, wo Kämpfer der größten Oppositionsgruppe im Ausland auf einen Einsatz vorbereitet werden. Der von der Vorgängerregierung Obama vorgezeichnete Weg vertraute auf den Dialog mit den Kräften um Rohani. Um diese Position zu erreichen hat das Regime viele Lobbyisten und hohe Budgets eingesetzt. Einer der bekanntesten Lobbyisten in den USA für das Regime im Iran, ist Trita Parsi. Er soll sehr gut vernetzt sein mit demokratischen Kräften in den USA.

Die Europäische Union hingegen favorisiert den Weg des Dialogs. Als Grundlage für die Dialoge betrachten die Europäer wirtschaftliche Beziehungen. Das Argument dazu lautet, nur wo es eine wirtschaftliche Beziehung gibt, kann man mit Druck agieren. Das mag so durchaus stimmen. Was die Europäer mit diesem Gedanken aber vernachlässigen, ist die Tatsache, dass in allen größeren Geschäften mit Iran die Revolutionsgarden involviert sind. Ihr Rolle, ihre Macht und ihr Dasein im Iran wird dadurch zementiert. Wir sollten nicht vergessen, dass die Revolutionsgarden ideologisch geschulte Kader mit einer Expansionsagenda sind. Die Hoffnung durch wirtschaftliche Beziehungen einen Sinneswandel einzuleiten, könnten trügerisch sein. Die Ultima Ratio der Garden ist ihre kämpferische Ideologie. Zu ihren Taktiken gehört dazu, sich möglichst im Hintergrund zu halten und andere vorzuschicken. In militärischen Interventionen sind es Afghanen, Libanesen, Iraker oder andere Nationalitäten, die verpflichtet werden, in wirtschaftlicher Hinsicht lassen sie im Westen ausgebildete und sich tendenziell eher westlich gebärdende Frauen und Männer die Geschäfte für sich abwickeln.

Neben den Volksmudschahedin gibt es im Ausland viele weitere oppositionelle iranische Gruppierungen. Die Volksmudschahedin werden als marxistisch-islamische Partei mit demokratischer Agenda beschrieben, während es viele weitere kommunistisch-orientierte Splittergruppen gibt. Weiterhin machen Kurden einen größeren Teil innerhalb der Auslandsopposition aus. Ihre Agenda reicht vom Sturz des Regimes bis zur Errichtung eines eigenen kurdischen Staats. Dazu kommen Iranerinnen und Iraner, die erst vor wenigen Jahren geflohen sind und die sich nicht als politische Opposition verstehen. Oft handelt es sich dabei um Anhänger von im Iran verfolgten Geistlichen wie Ajatollah Boroudscherdi oder dem Begründer einer alternativen Heilmethode, Mohammad Ali Taheri oder um Mitglieder des Nematollah Gonabadi Ordens. Daneben gibt es bürgerlich gesinnte Exil-Iraner, die mit Religion oder Spiritualität nichts am Hut haben. In den USA leben viele Anhänger Reza Pahlavis, dem Sohn des 1979 gestürzten Schahs, aber auch viele Exil-Iraner, die sich um Politik nicht scheren und im American-way-of-life aufgehen.

Aussichten

Man kann davon ausgehen, dass diese Unruhen kein CIA-Coup waren, auch wenn die gegenwärtige US-Administration ein Regime-change lieber heute als Morgen favorisieren würde. Europa hingegen geht konsequent den Weg des Wandel-durch-Handel und hält am Regime fest. Viele Iraner erleben diese Haltung als Appeasement und Leisetreterei. Sie werfen Europa vor, nur an Geschäften mit dem Iran interessiert zu sein. Wenn man Iraner nach der besten Lösung für ihr Land fragt, gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Die einen wollen aus Stabilitätsgründen das Regime behalten und langsame Reformen, die anderen wollen den Sturz des Systems und einen Neuanfang, manche rufen nach einem Referendum, in dem über die zukünftige Staatsform abgestimmt werden soll. Die einen wollen es aus eigener Kraft schaffen, andere wünschen sich härtere intelligente Sanktionen vor allem gegen Verantwortliche des Systems und deutlichere Worte gegenüber dem Regime. Eine militärische Option favorisiert nur eine ganz kleine Minderheit.

Manche bestehen darauf, dass die Geschäfte, die auf Europa warten, wenn die Menschen die Last des Regimes losgeworden sind, Geschäfte sein könnten, die sich doppelt lohnen. In den nächsten Monaten wird im Iran wenig Ruhe zu erwarten sein.

Welcher Ausgang zu erwarten ist, berührt die Frage, ob die Ameisen sich zusammentun, wie Sa'adi in diesem Gedicht schildert:

"Eine einzelne Ameise kann gegen den Drachen nichts ausrichten, doch wenn die Ameisen sich zusammentun, können sie den Drachen häuten."

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Mit herzlichem Dank an unseren lieben Freund Helmut Gabel für seinen wichtigen und aufklärenden Beitrag

Quelle: http://mehriran.de/artikel/stimmen-der-verzweifelnden.html#_ftn26