Brief an den Bruder

So zäh wie Honig rinnt die Zeit,
die Sorge um Dich färbt mein Haar,
ich denk an die Vergangenheit,
als ich mit Dir noch glücklich war
und wir noch unbeschwert gelebt,
lieb Bruderherz, wie fehlst Du mir,
ein Spinnennetz, aus Angst gewebt,
hängt wie ein Schleier über Dir.

Wie mutig ist Dein Löwenherz,
das Du dem Menschrecht geweiht,
Du hast gekämpft, warst starkes Erz
für jene in der Eisenzeit,
die unschuldig das Leben schwächte,
die Welt, gepackt in Gitterstäben
und nackten Mauern, selbstgerechte
Richter, die kein Recht vergeben.

Das Schicksal gab Dich aus der Hand
und zeigt sich Dir im Trauerkleide,
Du starrst auf Deine Zellenwand,
lieb Bruderherz, wie sehr ich leide!
Bleib stark, wie oft sie Dich auch quälen.
Die Unschuld weint in ihrem Blut,
wenn Gute sich von Bösen schälen,
erwächst die Freiheit aus dem Mut.

Wo Du auch bist, denk stets daran,
Du bist mein Fels in diesem Meer,
in Hoffnung zünd ich Kerzen an,
lieb Bruderherz, ich lieb Dich sehr!

*gewidmet Abdolfattah Soltani

© Aramesh, November 2014

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Das Gedicht entstand aus dem Brief von Mina Soltani an ihren Bruder Abdolfattah Soltani, einen iranischen Rechtsanwalt und Mitglied des Teheraner Zentrums für Menschenrechtsverteidiger, das er gemeinsam mit der Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi 2002 gründete. Er vertrat vor Gericht inhaftierte Schriftsteller und Menschenrechtler und die Gruppe der Bahai, die im Iran vehement verfolgt werden. Unter seinen Klienten war der Journalist und Schriftsteller Akbar Gandji, einer der bekanntesten Regimekritiker des Iran. Soltani wurde wiederholt verhaftet und eingesperrt. 2012 erhielt er eine Haftstrafe von 18 Jahren und danach ein 20-jähriges Berufsverbot. Verurteilt wurde er wegen der Annahme eines ungesetzlichen Preises. Hierbei handelte es sich um den Internationalen Menschenrechtspreis 2009 während eines Festaktes im Opernhaus Nürnberg, der ihm in Abwesenheit verliehen wurde. Seine Frau, die den Preis für ihn stellvertretend entgegennahm, wurde daraufhin zu einem Jahr Haft verurteilt und 5 Jahren Ausreiseverbot. Begründung: „Annahme eines ungesetzlichen Preises“, „regimefeindlicher Propaganda“, „Versammlung und Verdunklung mit systemfeindlicher Absicht“ und der „Gründung des Zentrums zum Schutz der Menschenrechte“.